_Dr. Beate Susanne Wehr

Die Aussage Pablo Picassos: »Ich suche nicht, ich finde« beschreibt am Besten den Zugang Ilse Lichtenbergers zu ihrem künstlerischen Schaffen.

Die Beobachtungen der Künstlerin von geologischen Formen, wie Erden in verschiedenen Trocknungsstufen, unter der Lupe betrachtete Pflanzenformen oder Naturerscheinungen wie Eiskristalle bilden, fotografisch und gedanklich festgehalten, die Basis für viele ihrer frühen Werke. (2002-2005)

Um diese in der Natur gefundenen Formen ins Bild zu setzten arbeitet Lichtenberger mit malerischen und grafischen Mitteln. Diese geben ihr die Möglichkeit Linien und Formen so miteinander in Beziehung zu setzten wie diese in einem spezifischen Topos von ihr wahrgenommen werden. Dabei legt sie besonderen Wert auf das ausarbeiten und aufzeigen besonderer, an die Natur angelehnte Strukturen. Bei der Umsetzung zeigt sie große Sensibilität in der Wahrnehmung und eine lebendige Freude an starker Farbgebung. (2004-2006) Die künstlerischen Erscheinungsformen sind dabei vielfältig und oftmals weit entfernt von der Ausgangsbeobachtung.

Besonders die Grafiken die sie in den Techniken des Holzschnittes und der Monotypie  umsetzt erscheinen durch ihre übereinander geschichteten Linien, Formen und Farben in einer deutlich wahrnehmbaren »Unordnung« oder gar »chaotischen Anordnung«. Auf dem Trägermaterial Papier sind zahlreiche übereinander gedruckte Schichten zu sehen, die in ihren Verbindungen unauflösbaren zu einem einzigartigen Werk, einem Unikat verschmelzen.

Der Gedanke an eine künstlerische Ursuppe liegt nahe, die in all ihren Verbindungen und Verwicklungen die Vorlage für eine beginnende Ordnung der Natur und des Menschen in sich trägt.

Man kann es als logische Folge betrachten, dass Ilse Lichtenberger ihre stark von persönlichen Natureindrücken geprägten Arbeiten mit monotypistischen Zeichnungen von Menschen ihres persönlichen Umfeldes verbindet. Die im weiteren entstandenen Arbeiten zeigen Figuren, die gleichberechtigt mit Farben, Strukturen, Flächen und Linien eine Einheit bilden (2007-2009). Der subjektive Blick der Künstlerin, ihr besonderer Fokus setzt sich dabei immer mehr mit der Frage des menschlichen Seins und der Beziehungen von Menschen und der Natur auseinander.

Die druckgrafischen Werke zeigen den Beginn einer scheinbaren Wandlung im Sujet von Ilse Lichtenberger. Der Mensch betritt die Bühne des Bildraumes, er löst sich aus dem Chaos der künstlerischen Ursuppe. Die Arbeiten werden formal klarer und reduzierter.

Betrachten wir Ilse Lichtenbergers malerischen Arbeiten: Sie entstanden vor demselben Hintergrund wie die grafischen Arbeiten, aus dem Interesse an geologischen Strukturen, waren jedoch im Gegensatz zu den Grafiken von Anbeginn an von einer stark reduzierten, klar strukturierten Formen- und Farbensprache geprägt.

Unverkennbar ist bei diesen Werken die mit Acryl- oder Ölfarben ausgeführt sind, die formale Nähe zu den Grafiken. Das kann am Beispiel der zeichnerischen Bearbeitung mit Oilsticks besonders gut nachvollzogen werden. Dennoch bleibt die Frage offen, ob die groß dimensionierten, auf Leinwand ausgeführten Werke nun als »Malereien« oder als »Grafiken« zu bezeichnen sind.

Wenden wir uns an diesem Punkt wieder den druckgrafischen Exponaten zu: War die Darstellung vormals von expressiven Strukturen, Formationen und Gefügen geprägt so treten ab ca. 2010 die auf den Grafiken dargestellten Portraits und Figuren klarer aus dem Bildraum in den Vordergrund.

Waren anfänglich geologische Strukturen und Verbindungen Impulsgeber für die künstlerische Auseinandersetzung, so erweitert sich nun der künstlerische Fokus auf soziale Beziehungsgeflechte und Verbindungen von Menschen. Dabei sind die dargestellten Personen größtenteils aus Ilse Lichtenberger persönlichen Umfeld und ihr bekannt. Die frühen Arbeiten dieser Serie zeigen wie schon erwähnt noch eine starke Verbindung mit »geologischen Strukturen« die immer noch Bestandteil der Darstellung sind.

Erst mit den »Menschenschnitten«(2011) verschwinden diese geologisch geprägten Strukturen aus den Bildern. Lichtenberger wird klarer, reduzierter, ja formal einfacher. Ihrem Interesse an Strukturen und Verbindungen bleibt sie treu, wenn diese auch nicht mehr primär sichtbar sind. Ist der anfängliche Zugang zum künstlerischen Schaffen für Ilse Lichtenberger von einem forschenden, spielerischen oder beobachtenden Aspekt geprägt, so wandelt sich dieser Ansatz im Laufe der Zeit in ein konzeptionelles Arbeiten. Sowohl formal wie inhaltlich zieht sich das Thema des roten Fadens »Struktur« durch alle Schaffensphasen.

Ilse Lichtenberger beginnt lebensgroße Holzschnitte von Familienmitgliedern, Freunden und Bekannten zu fertigen, deren charakterliche Merkmale sie genau herauszuarbeiten vermag. Sie druckt die oftmals im Maßstab 1:1 gefertigten Personen auf großen Leinwänden, einzeln wie auch in Gruppen. Die persönlichen Beziehungen dieser Menschen zur Künstlerin bleiben für den Betrachter unbekannt. Einzig die Positionierung, Zusammenstellung und Haltung der Dargestellten lässt auf Verbindungsstrukturen unter den Dargestellten schließen.

Durch die Wahl der abgebildeten Personen thematisiert Ilse Lichtenberger die Wichtigkeit sozialer Strukturen wie Familie oder Freunde. Vielleicht sind aus diesem Grund die Personen ihrer »Menschenschnitte« schablonenhaft dargestellt und anonymisiert. Vielleicht wenden sie sich darum in ihre Kommunikation vertieft vom Betrachter ab und hinein in die Tiefen des Bildraumes. Vielleicht wollen sie ihre sozialen Strukturen schützen. Und vielleicht stellen sie sich gegen die gängige Gepflogenheit alles öffentlich zu diskutieren und darüber die Balance zwischen öffentlicher Wahrnehmung und Privatheit zu verlieren.

Wenn wir nun am Ende dieser Ausführungen noch einmal an den Anfang dieses Textes zurückgehen und Picassos Worte ins Gedächtnis rufen »Ich suche nicht, ich finde« kann man Ilse Lichtenberger gratulieren, dass sie ihren Weg in der Kunst gefunden hat – und wer weiß, vielleicht hat sie ihn gar nicht gesucht?

Dr. Beate Susanne Wehr